Samstag, Dezember 2, 2023
Feuilleton

Der Mensch als Maß aller Dinge

Alexandra Müller-JontschewaZum 65. Geburtstag der Malerin Alexandra Müller-Jontschewa

Sie stecken voller Geheimnisse und Überraschungen, die großen Mythen-Panoramen wie auch die anderen, kleineren Formate von Alexandra Müller-Jontschewa. Bei der ersten Begegnung mit ihnen mag der Betrachter zweifeln, ob sie wirklich von unserer Zeit sind. So sehr verblüfft ihre altmeisterliche Technik und mancher Trompe-l’œil-Effekt. Wer ist diese Künstlerin, die Kreuzritter in der Wüste stranden und eine Marionette auf dem Marktplatz öffentlich entbinden lässt? Warum fährt ihr Parzival lieber auf einem primitivem Skateboard, statt sich um den heiligen Gral zu kümmern? Und was beobachtet die Heuschrecke in einer mittelalterlichen Spelunke?

Alexandra Müller-Jontschewa bietet mit ihren Werken einen eigenen Zugang zu historischen Überlieferungen, biblischen Legenden, antiker Klassik – kurz: zu den Mythen der Vergangenheit. Die haben als sogenannte Archetypen, Urbilder, im kollektiven Gedächtnis der Menschen Spuren hinterlassen. So setzt sie in ihren Bildern Zeit und Raum außer Kraft, kombiniert Symbole verschiedener Welten und Epochen. Da kann es schon mal zu einem Stelldichein der Artus-Sage mit der versteinerten Niobe aus der griechischen Götterwelt kommen oder die alttestamentarische Judit auf Athene treffen. Auch der wahre Strom der Zeit, die Geschichte des menschlichen Denkens, vermischt Mythen und Legenden. Vielleicht ist der Synkretismus bei Müller-Jontschewa eine Mahnung, nicht in die Geschichtslosigkeit zu versinken.

Wenn Mythologie derart zur Inspirationsquelle für ihre Kunst ist, muss dies auch eine Frage der persönlichen Affinität sein. Aufgewachsen in Bulgarien kam sie sehr frühzeitig und direkt mit Zeugnissen der griechischen Antike in Berührung, erlebte die Kunst ihres Heimatlandes, die sehr vom Morgenländischen beeinflusst ist. Natürlich prägte sie das Studium bei den Altvätern der Leipziger Schule ebenso, wie sie den Einfluss der Renaissancemalerei nicht leugnen mag.

Seit mehr als einem Jahrzehnt entwickelt sie ihr Marionettensujet zu einem surrealisti­schen Gleichnis für ein Menschenbild, in dem es kein Leben ohne Verstrickungen mit anderen Schicksalen, kein menschliches Dasein ohne Scheitern von Idealen gibt. Die Menschen beherrschen nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse, die sie selbst geschaffen haben. Der Mensch als Marionette oder besser: die Marionette Mensch hat viele Facetten bei Alexandra Müller-Jontschewa. Sie zeigt ihn als Werk- oder gar als Spielzeug anderer. Sein Schicksal bewegt sich zwischen Entmündigung, Nutzlosigkeit und der Illusion von Freiheit, zwischen Hoffnung, Streben nach Glück und Resignation. Vor einer ästhetisch gefälligen Kulisse lauert der Verfall der modernen und zugleich morbiden Zivilisation: Korruption, Dummheit und Arroganz. Damit enttarnt sie auch das postmoderne Klischee, jeder könne sich selbst verwirklichen, wenn er nur wolle.

Die Künstlerin ist keine laute Kommentatorin der Gegenwart, aber ganz sicher ihre kritische Beobachterin. Sie vermag ein desillusionierendes Spiegelbild gesellschaftlicher Beziehungen zu zeichnen, das sich erst auf den zweiten Blick erschließt, sozusagen als entlarvender Blick hinter die Fassade. Und sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, alle Herausforderungen, die der Menschheit begegnen, ihren Gliederpuppen in einer Stellvertreter-Funktion widerfahren zu lassen. Alexandras Marionetten sind voller menschlicher Züge. Sie leben, fühlen, handeln menschlich – und unmenschlich. Da stellt sich irgendwann die Frage: Ist der Mensch nur Marionette seiner eigenen Geschichte? Ob Götter oder Marionetten – es bleiben Figurationen für den Menschen. Frei nach Oscar Wilde: Der Mensch ist am wenigsten er selbst, wenn er sein Gesicht zeigt. Gib ihm eine Maske und er wird die Wahrheit sagen.

Ihre weit über die Landesgrenzen hinausreichende Reputation spiegelt sich auch in den vielen Beteiligungen an internationalen Expositionen wider. Seit etwa 20 Jahren ist sie mit Hans-Peter Müller, ihrem Mann und Kollegen, in internationalen Künstlergruppen engagiert, beteiligt sie sich an der Art en Capital, einer der bedeutendsten Ausstellungen zeitgenössischer Kunst im Pariser Grand Palais. Bei den großen Präsentationen des aktuellen Surrealismus bzw. phantastischen Realismus in Deutschland, Österreich und Frankreich ist sie mit wichtigen Werken erfolgreich vertreten. Aber manchmal, wenn sie wieder angefragt wird aus dem Ausland, beschleicht sie trotzdem das Gefühl, dass der Prophet im eigenem Land nicht viel gilt.

Im Mittelpunkt steht der Mensch. Er ist das Maß aller Dinge, meinte einst der griechische Philosoph Protagoras. Es wird Zeit, dass er seinen Platz einnimmt, könnte man ihn 2.500 Jahre später ergänzen. Solange das noch nicht der Fall ist, wird Alexandra Müller-Jontschewa weiter malen, ja weiter malen müssen.

Dr. Klaus Freyer
Gera, im Juni 2013

Foto: (privat) Die Künstlerin vor dem Triptychon „L’outremer“

Ein Gedanke zu „Der Mensch als Maß aller Dinge

  • Günter Westermann

    Liebe Alexandra Müller-Jontschewa,

    gerade habe ich den Artikel von Dr. Klaus Freyer intensiv gelesen und kann ihm in allen Belangen nur zustimmen. In der geheimnisvollen Welt der Phantastik sind Sie und auch Ihr Mann Hans-Peter absolute Ausnahmeerscheinungen. Und wenn es Ihnen manchmal so scheinen sollte, dass der Prophet im eigenen Lande nicht viel gilt, so lassen Sie es sich versichern, dass ich stolz bin zwei wunderschöne Arbeiten von Ihnen in meiner Sammlung zu wissen.

    Herzlichst Günter Westermann

    PHANTASTIK IN DER BOX – SAMMLUNG WESTERMANN

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