Samstag, Dezember 2, 2023
Feuilleton

Die fiktiven Zeitreisen der Alexandra Müller-Jontschewa

Große Retrospektive zum 75. Geburtstag im Panorama Museum

Eine geflügelte Rittermarionette überfliegt in einem goldenen Einrad ein Felsplateau, auf dem Pegasus gerade die Zügel angelegt werden. Im Urteil des Paris präsentiert Aphrodite die schöne Helena als goldenes Ebenbild ihrer selbst. 

Mythen, Menschen und Marionetten sind wohl die wichtigsten Motive der Malerin Alexandra Müller-Jontschewa. Das spiegelt mit faszinierendem Schauwert und fast magischer Anziehungskraft die große Retrospektive im Panorama Museum Bad Frankenhausen wider. Anlässlich des 75. Geburtstages geben 70 Gemälde und 30 Handzeichnungen Einblick in alle Schaffensperioden der Künstlerin, die nach ihrem Studium an der Hochschule für Grafik und Buchkunst freischaffend in Leipzig war und seit über 40 Jahren in Thüringen tätig ist. Längst auch international anerkannt, nimmt sie eine dominierende Rolle in der weltweit ausstellenden Künstlergruppe „Libellule“ ein, die sich einer Renaissance contemporaine verpflichtet fühlt.

Neben Überlieferungen aus Mythos und Religion begegnet die Malerin auf ihren künstlerischen Streifzügen durch die Geschichte auch historischen Persönlichkeiten. Es sind die Legenden, das Leben mythischer und historischer Figuren, die bereits die Künstler der Renaissance für einen neuen Geist von Humanismus und Naturalismus in der Malerei nutzten. Dem nachzuspüren und zugleich sowohl die eigene Sicht als auch den individuellen Stil einzubringen, dies gelingt Alexandra ebenso meisterhaft. 

Souverän und kenntnisreich verwendet sie für ihre Bildkomposition Zitate aus der Kunstgeschichte, die so manches Werk zu einer Hommage an die alten Meister werden lässt.

Ihr originäres Marionettensujet steht als surrealistisches Gleichnis für ein differenziertes Bild von der Gesellschaft, das auch deren Scheitern einschließt, wie in der unfreiwilligen Siesta, einer schicksalshaften Metapher für Entmündigung oder gar Nutzlosigkeit des Menschen. Das Spiel ihrer Gliederpuppen lässt ahnen, dass uns das Rad der Geschichte das eigene Schicksal nicht selbst bestimmen lässt. Es ist wohl das Ringen zwischen der vermuteten Prädestination menschlichen Lebens und dem Bekenntnis zum freien Willen, das die Künstlerin umtreibt.

Dabei schreckt sie auch nicht vor den Schattenseiten einer Moral zurück, die ihre soziale Balance längst verloren oder vielleicht nie gehabt hat.In Justitia scheint die Göttin noch unschuldig ihrer Profession nachzugehen, aber ihre Waage der Gerechtigkeit ist dabei, die Balance zu verlieren. Längst ziehen andere die Fäden… Alexandra maßt sich nicht an, die moralische Instanz zu sein. Aber: Sie hofft, dass es eine gibt.

Alle Saiten des Seins erklingen, manchmal die Seelenqua­len etwas lauter als unsere Sehnsüchte und Hoffnungen auf Liebe, Harmonie und Glück. In der bildgewaltigen Heimsuchung des heiligen Antonius bedrängen dämonenhafte Verführungen auch noch den Menschen der Neuzeit, nicht nur in seinen Alpträumen. 

Bei aller Dramatik: Die Ausstellung vergisst nicht den augenzwinkernden, humorvollen Blick der Malerin auf uns Menschen und die unser Schicksal begleitenden Götter. Oder vielmehr, was von ihnen noch in unserem Gedächtnis geblieben ist. So wird das Urteil des Paris zu einer Hommage auf die Sinnlichkeit der Frau und die Schlitzohrigkeit der Götter – oder der Männer, was in diesem Fall ja fast dasselbe ist. Auch ein Kunstfreund bekommt nicht immer die Gelegenheit, drei Göttinnen auf einem Bild nackt zu sehen. Was sogar Amor seinen Bogen vergessen lässt…

Ein in Bild- und Textqualität herausragender Katalog würdigt Alexandra Müller-Jontschewa als führende Repräsentantin eines altmeisterlichen Manierismus, der kunsthistorisch von bleibender Bedeutung sei.

Alexandra Müller-Jontschewa: Gefährdetes Paradies. Bis 18.6. 23 im Panorama-Museum Bad Frankenhausen. Katalog mit ca. 100 Farbabbildungen und Texten von Edwin Kratschmer, Klaus Freyer und Gerd Lindner. ISBN 978-3-938049-44-0 

Text: Dr. Klaus Freyer, Abbildungen: Titelfoto © Gert Hoyer, alle anderen © Alexandra Müller-Jontschewa und Panorama Museum

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