Dreamscapes V vereint 75 Handschriften zum modernen Surrealismus

Dreamscapes VDer imaginäre Realismus ist eine globale Bewegung geworden. Dies ist das program­matische Resümee des Niederländers Marcel Salome. Vor wenigen Tagen ist sein 5. Band von „Dreamscapes“ (etwa soviel wie Traumwelten oder -landschaften) erschienen. 75 Künstler der Gegenwart werden mit ihren durchgängig farbigen, oft großforma­tigen Werken, persönlichen Statements und standardisierten Interviews vorgestellt: Wer oder was inspiriert sie, woher kommt ihr Antrieb? Wie beeinflusst die Außenwelt ihre Kunst? Es überwiegen die Europäer, vertreten sind aber ebenso die USA, Japan, Indien und der Irak.

Imaginären Realismus sieht Salome nicht als eigenständige Stilrichtung der bildenden Kunst. Er subsumiert darunter den zeitgenössischen Surrealismus, insbesondere die Spielarten des magischen, phantastischen und visionären Realismus mit symbolistischer Prägung. In der Literatur werden diese Ismen oft auch als Synonyme gebraucht, so fließend sind die Grenzen zwischen ihnen. Während Kunstwissenschaftler damit beschäftigt sind, Unterschiede akademisch herauszuarbeiten, sucht Salome, sie zu einer weltweiten Bewegung zu vereinen. Um stärker vom öffentlichen Kunstinteresse wahrgenommen zu werden, verwirklicht sich das Projekt „Dreamscapes“ nicht nur über die gleichnamige Kunstbuch-Edition, sondern wird von internationalen Wanderausstellungen begleitet. Salome eröffnet den beteilig­ten Künstlern neue Kontakte zu Museen, Kunstmessen und Galerien. „Dreamscapes“ will sich als Marke in der zeitgenössischen Kunst platzieren und ist so auch ein kommerzielles Instrument für die Künstler, um deren Resonanz am internationalen Kunstmarkt zu erhöhen. Salome sieht den imaginären Realismus zu unrecht abgestempelt als Kitsch und unechte Kunst. Deshalb bewegt sich „Dreamscapes V“ konsequent abseits von seichten pseudo­romantischen Traumsequenzen und formaler Illustrationsmalerei. Laienhaft-naive Engels­darstellungen und geflügelte Menschenseelchen, die hier und da im Umfeld des phantas­tischen Realismus – und nicht nur dort – auftauchen mögen, bergen jedoch immer die Gefahr einer Simplifizierung und den Vorwurf von Trivialkunst, wenn sie zu sehr an die Elfenreigen früherer Schlafzimmer erinnern.

Weltweit gibt es nicht allzuviele bekannte und aktive Vereinigungen von Künstlern oder gar Museen, die um einen zeitgenössischen Surrealismus ringen. Sie lassen sich an einer Hand abzählen: Die Society for Art of Imagination, 1960 als „Inscape Group“ von engli­schen Künstlern gegründet, ist wohl die älteste. Labyrinthe, die Gesellschaft für phan­tastische und visionäre Künste, hat ihren Sitz in München und Rom. Die internationale Künstlergruppe „Libellule“, ins Leben gerufen und geführt vom Wahl-Franzosen Lucas Kandl, verfolgt ähnliche Ziele wie das Phantastenmuseum in Wien.

Die Meisten der vorgestellten Künstler sind in ihren Heimatländern, aber auch auf interna­tionalem Parkett keine Unbekannten. Andere sind erst dabei, ihr Potenzial aufzudecken. Und das ist eine weitere Intention des Herausgebers: Salome hat ganz bewusst neben den arrivierten Künstlern eine neue Generation im Blick, die mit Techniken wie digitaler Bildbearbeitung und 3D-Druck längst nicht nur experimentieren. Ob sie jedoch zu Innova­tionen führen oder als derzeit modern geltendes Phänomen nur eine befristete Rander­scheinung sind, bleibt ebenso abzuwarten wie die Frage, ob die Techniken neuer Medien Bestand haben werden, wie die der Renaissancemaler.

Im Buch dominiert die Malerei, aber auch die Skulptur ist vertreten. Hans Peter Mader (D) und Edward Leibowitz (B) zum Beispiel übertragen die Schönheit des menschlichen Akts auf mythische Figuren und schaffen so bekannte und neuartige plastische Misch­wesen mit menschlichen Zügen: Einhorn, Minothaurus, Horse-Lady. Selbst der Teufel erhält sein weibliches Pendant. Joshua Pennings (NL) stellt rostige, archaisch anmutende biomechanische Wesen vor. Das in Thüringen lebende Künstlerpaar Alexandra Müller-Jontschewa und Hans-Peter Müller ist mit mehreren Werken altmeisterlicher Malerei repräsentativ vertreten. Die Jontschewa zeigt neben fiktiven Großporträts historischer Persönlichkeiten die „Hermetische Festung“, ein Monumentalpanorama mit mythischem Personal aus der griechischen Antike. Müller veröffentlicht erstmals zwei Triptycha, die urchristliche Mystik und altjüdische Dämonologie zum Inhalt haben. Das Künstlerpaar ist bekannt dafür, den Metapherreichtum alter Mythen und Legenden für allegorische Anspielungen auf die Gegenwart zu nutzen. Der Rückgriff auf Mythologie, Religion und Geschichte ist bei vielen der vorgestellten Künstler zu finden.

Der Japaner Yu Saguwara nennt als künstlerische Vorbilder Max Ernst, Yves Tangui und Marcel Duchamp. Dabei ist er nicht der Einzige, der sich von den Surrealismus-Heroen des 20. Jahrhunderts und deren Quellen inspirieren lässt. Ein flüchtiges Durchblättern des fast 300 Seiten umfassenden Bandes gelingt nur eingeschränkt, weil sich die neugierigen Augen des Rezensenten immer wieder aufs Neue fesseln lassen. Das liegt an der Faszi­nation einer Methode, die nicht nur die Mehrzahl der Werke, sondern das ganze Buch als konstituierendes Moment trägt. Bekannt geworden ist dieses Phänomen durch die Metapher Lautréamonts vom “ zufälligen Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“ . Augen und Hirn des Betrachters bietet sich also eine ungewohnte Sicht der Dinge, die der menschlichen Erfahrung oft widersprechen. Das Ergebnis irritiert, positioniert, fordert heraus. Manches ist übrigens an Skurrilität kaum noch zu toppen, wie der „Tagtraum“ des Niederländers Hans Kanters und seine bizarren Figuren. Es ist aber nur in seltenen Fällen – Salome kann mit diesen Ausnahmen leben – eine introvertierte Kunst, sondern meist eine, die Botschaften und zuweilen auch Sendungsbewusstsein in Anspruch nimmt, ohne den Absolutheitsanspruch auf Wahrheit für sich zu reklamieren. Damit stehen die Künstler von „Dreamscapes“ durchaus in der Tradition der Surrealisten alter Schule. Traumsequenzen mit archetypischen Inhalten zeigen eine Nähe zum Freud­schen Unbewussten. Und das dargestellte Innenleben des Künstlers offenbart auch das entfremdete eigene Ich in seinem sozialen Beziehungsgefüge.

Zu sehen sind die Werke noch bis zum 6. Oktober im bayrischen Viechtach, dann wandern sie nach Alden Biesen (Belgien), um über Utrecht dann 2014 in einer großen Abschluß-Ausstellung in Amsterdam gezeigt zu werden. Auch wenn die Edition nur mit englischen Texten vorliegt, sie sollte sich im deutschsprachigen Raum zum Must-have für Galerien und Museen entwickeln können. Bisher hat sich noch keine der großen Kunst­städte oder Musentempel Deutschlands getraut, das Angebot von „Dreamscapes“ anzunehmen. Zweifeln sie etwa, dass die Meister der Gegenwart die alten Meister der Zukunft sein werden? Die jedenfalls arbeiten daran.
Dr. Klaus Freyer, Gera

Dreamscapes V. Contemporary imaginary realism. Re-Art Imaginary Editions 2013 (engl.) 288 S., ISBN: 978-94-90668-05-1

Text: © Dr. Klaus Freyer, Foto: © Imaginary Editions

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