Sonntag, September 24, 2023
AusstellungsgeschehenFeuilleton

Von der Streetphotographie bis zur Eule der Minerva.

aus der Serie Zwischenwelten „Experience realm (Lebenswelten), 2011Frank Rüdiger zeigt in Gera Fotos, Fotografiken und Fotocollagen. Ob in Rom, London oder Gera, ob spontane Straßenfotografie, Porträts oder surreal verfremdete Motive – fast jedes Bild erzählt eine pointierte Geschichte.

Wie parallele Lichtströme kreuzen sich die Schienenwege vor dem Geraer Stadtmuseum. Als ob sie ihm ausweichen, führt einer geradewegs in den nahen Einkaufstempel. Bietet gar der Kanaldeckel im Vordergrund einen direkten Weg hinein ins Museum, unterirdisch? Übt das Bild feinsinnige Kritik an der städtischen Museumspolitik? Es ist nur eins von über 200 Fotos der Ausstellung „Ansichtssachen“, die das Museum für Angewandte Kunst Frank Rüdiger, einem der produktivsten und bekanntesten Fotografen der Region, zu seinem 60. Geburtstag widmet. Er, der in seiner engeren Heimat sicher nicht mit Ausstellungen überhäuft wird, ist als Fotograf, Buchautor und Verleger bisher an mehr als 70 Publikationen beteiligt.
Wer seine Fotos analytisch betrachtet, bemerkt alsbald, dass sie auch ohne die sichtbare Präsenz des Menschen auskommen, aber nicht ohne dessen Spuren. Sein Fokus ist und bleibt der Mensch oder besser: die lebendige Menschlichkeit des Alltags, ohne große plakative Gesten einer letzlich inhaltslosen Humanitas. Welchen Ausschnitt aus der Realität er mit seiner Kamera auch wählen mag, er belässt den Menschen stets in seiner Authentizität und gewohnten Umgebung. Deshalb beschränken sich seine klugen Porträts auch nicht nur auf die Gesichter seiner Protagonisten. Und so werden sie erfahrbar, die Lebensfreude der Straßenmusiker, das fast greifbare Unbehagen des Paares beim Betrachten einer nackten Statue. Durch seine spezifische Art der Fotografie wird der von Rüdiger noch unmittelbar erlebte Dialog nonverbal und über die im Moment festgehaltene Körpersprache und Mimik für die Nachwelt nacherlebbar.Wie beim Schwatz der beiden Weiber, während sich die angeleinten Hunde der einen gänzlich gegenseitig ignorieren. Eigentlich hatte er nur das valentineske Profil der Jüngeren vor der Linse… Und gerade das scheint für Frank Rüdiger das Reizvolle an seinem Tun zu sein: Momente aufzuzeigen, in der sich eine Situation verdreht. Straßenfotografie im besten Sinne, unverfälscht, weil er deren Motive nie arrangiert. Sie entstehen immer spontan aus der Situation heraus, die sie widerspiegeln, Spontaneität sorgt eben für Überraschungen.
Früher hat er sich übrigens oft selbst, in der Hand einen Dederon-Beutel (Wer es nicht oder nicht mehr weiß, dies ist die DDR-Variante des Nylon) ablichten lassen. Diese Rolle hat jetzt ein pinkfarbener Dürer-Hase übernommen, der nun in allen möglichen Situationen in Nürnberg auftaucht. Will Rüdiger so die verkitschte Banalität des Alltags aufs Korn nehmen? Ist das Kunst? Ansichtssache! Es sei denn, man teilt mit Helge Schneider dessen Humorebene, was schwierig genug demjenigen erscheinen mag, der diese Höhen noch nicht erklommen hat. Oder hat der Humor aus den Landen der britischen Inseln, die Rüdiger längst zu seiner zweiten Heimat erklärt hat, nun auch geistig abgefärbt? Auch das – Ansichtssache.
Mythisch, gar mystisch wird es im Dartmoor, auf Stonehenge und in den Collagen der „Worlds in between“ ( „Zwischenwelten“), einer relativ neuen Nuance im Werk des nimmermüden Bildautors, bei der die Einbildungskraft des Rezipienten besonders gefordert wird. Denn die Collagentechnik löst die urprüngliche Eindimensionalität auf, die Bilder werden narrativer, erzählerisch dichter, an Assoziationen reicher. Dabei sind Anleihen an die klassische surrealistische Fotografie und deren Verarbeitung mythischer Motive unverkennbar. Da wird die Geburt der Aphrodite zur Plastik im überdimensionalen Aquarium, die Eule der Minerva beginnt erst in der Dämmerung ihren Flug, mit den Augen bereits den Betrachter fixierend. Als Beute?
Besonders das „Experience realm“ („Lebenswelten“) erinnert an die Traumsequenzen á la Dali. Die scheinbar nächtlichen Gera-Bilder mit ihren schwarzen Fenstern und fast weißer Fassade vereinen in fast paradoxer und doch faszinierender Weise Tag und Nacht mit dem Licht, das in der Dunkelheit ohne Schatten auskommt. Hier könnte Magritte mit seiner „Herrschaft des Lichts“ oder Duchamp mit „Fresh Widow“ durchaus Pate gestanden haben. Der entscheidende Unterschied: Während die surrealistischen Maler reale Bildelemente in einen neuen Zusammenhang ver-rücken, verfremdet ihr Fotografenkollege eine vormals real dokumentierte Wirklichkeit. Schauen Sie nur auf die eigenartige Rummelszene – vor Stunden noch voller sich vergnügender Menschen, in der bedrohlichen Dunkelheit der Sperrstunde wie von einem Dämonen beherrscht. Diese Erfahrung hat sicher bereits ein jeder gemacht: Bei Tag Vertrautes wirkt bei Nacht fast gespenstisch und alptraumhaft.
Die Bildmontagen mit Fotos aus Kaisers Zeiten und heutigen Geraer Motiven verweben Vergangenheit und Gegenwart zu einer skurrilen Präsenz. Sie wecken das historische Interesse des Betrachters, der angeregt wird, nach weiteren geschichtlichen Spuren zu suchen. Wer will, der vergnüge sich an den stimmungsvollen Landschaften, die auch in der Ausstellung zu sehen sind. Das Wichtigste jedoch sind Rüdigers Menschen-Bilder. Weil sie ein Menschenbild reflektieren. Ohne unnötige Bedeutungsschwere.

Dr. Klaus Freyer, Gera

Noch zu sehen bis 3. Oktober im Museum für Angewandte Kunst in Gera

Text: Dr. Klaus Freyer, Abbildungen: © Frank Rüdiger; Porträt von Frank Rüdiger © Ulla Spörl

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